Montag, 11. April 2011

Eine Liebeserklärung



Jeder Wochenendausflug in die faszinierende heilige Stadt Kashi (alter Name für Varanasi) hat uns erneut zum Staunen gebracht. Wir haben viele Tempel besucht, Hindurituale beobachtet und selbst zelebriert, Feuerzeremonien bestaunt, Rikscha, Tuktuk oder Boot gefahren, auf den Häusern und Tempeln rumturnende Affen bestaunt, Bollywood-Filmaufnahmen am Assi-Ghat beobachtet, mit den verschiedensten Menschen gesprochen, mit ihnen gekocht, gegessen, gelacht und gespielt, Pan (indischer Kautabak) probiert und ausgespuckt (Linus liebt das Kinder-Pan, er ist wohl doch eine Hindu-Reinkarnation), gefeilscht und gehandelt, Künstler getroffen, mit Assi-Kindern gespielt, viele interessante Tiere gesehen, viel fotografiert und fotografiert worden und vieles, vieles mehr.



Ich liebe diese Stadt und obwohl ich bereits viermal hier war, weiss ich eines mit Gewissheit: Ich komme wieder. Es ist eine magische Stadt, bezaubernd, heilig, unverwechselbar und absolut ehrlich. Hier wird nichts vertuscht oder versteckt. Es ist, wie es ist, und dies oft nicht zum Vorteil der hier lebenden Menschen. Es sei denn, man hat Glück und am nächsten Tag fährt die Frau des zweiten Premierministers im Auto durch deine Strasse. Dann wird nämlich die mit riesen Schlaglöchern übersäte und unebene Erdstrasse noch um 22.00 Uhr am Vorabend frisch und perfekt geteert (auch das haben wir erlebt). Schade, dass diese Frau nicht alle Strassen in Varanasi durchfahren hat!



Es ist nicht nur das Staunen über die vielen ungewohnten Dinge, die man hier sehen und erleben kann. Es ist für mich der Ort, wo ich mein mitgebrachtes westliches Wissen dauernd hinerfragen kann und muss. Die Massstäbe und vor allem das Denken der Menschen sind recht unterschiedlich. Und ich rede hier nicht von ein paar Aussenseitern, sondern von 1.2 Milliarden Menschen!



Vieles in Indien und vor allem hier in Varanasi ist rückständig, verwahrlost, laut und schmutzig. Es gibt hier Krankheiten und Schicksale, die wir im Westen schon lange nicht mehr kennen. Die meisten der Menschen hier sind gewohnt zu leiden und vieles zu ertragen. Und doch sind sie so unglaublich stolz, fröhlich und selbstbewusst. Ich bewundere diese Menschen hier. Jeden Tag kann ich von ihnen lernen. Und so manches Problem wird hier in eine andere Relation gesetzt.



Und das Kiran? Ja, das ist eine Liebesgeschichte für sich. Der Staat Uttar Pradesch, der zweitärmste Staat in Indien mit 80 Mio. Einwohnern, hat leider nur ein NGO (Non-Government-Organization) in dieser Art für behinderte Menschen zu bieten. Das Kiran ist eine grüne Oase, wo man sich einfach wohlfühlen muss. Es spiegelt sich in der Art, wie die Menschen hier miteinander umgehen. Für viele behinderte Menschen ist es ein Ort, an dem sie einfach sich selbst sein können und nicht immer wieder menschenunwürdig behandelt werden. Das Kiran wird wohl immer ein Teil von mir sein und ich freue mich, weiterhin im Vorstand des Kiran-Freundeskreises mitzuarbeiten. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis ich die Menschen hier wiedersehe.



In zwei Tagen steigen wir wieder in den Flieger und reisen zurück nach Delhi. Dort werden wir dann endlich wieder Dominik treffen und für zwei Wochen gemeinsam eine Rundreise geniessen. Das Abenteuer ist bis heute gut gelungen. Finian und Linus haben die Zeit hier im Kiran wirklich hervorragend gemeistert. Natürlich brauchte es seine Zeit, bis wir völlig eingewöhnt waren, aber es erstaunt uns selbst, wie selbstverständlich und normal der Kiran-Alltag für uns geworden ist. Finian erzählte mir kürzlich, dass ihm gar nicht mehr auffällt, ob jemend behindert ist und in welcher Art. Ja, es ist wirklich so, mit der Zeit sieht man nur noch Andersbegabte.



Es war nicht immer einfach. Vor allem wohl für mich, da ich 24 Stunden die Gesamtverantwortung hatte. Ich musste alles organisieren, übersetzen, Streitereien schlichten (das kam leider zwischen den beiden Buben sehr oft vor), zuhören, trösten, waschen, putzen, Essen organisieren, Schulaufgaben korrigieren, vieles erklären und vermitteln, die Wochenenden organisieren, bei Krankheit pflegen, arbeiten in der Nursery, in der Special Education und zusätzlich im letzten Monat bei den Gehörlosen (ich habe dort Spielanleitungen übersetzt und gezeigt, wie man bestehende Gesellschaftsspiele aus der Bibliothekt spielt).

Dann der regelmässige Kontakt mit den Hostelkindern. Viele vermissen ihre Eltern und haben oft etwas Nähe gebraucht. Natürlich machen uns auch die Hitze und unruhige Nächte zu schaffen. Ja, es war eigentlich recht anstrengend, aber eben auch so unglaublich erfüllend und schön.



Ich bin auf Finian und Linus sehr stolz. Sie haben alles unglaublich gut mitgemacht. Obwohl wir hier unter sehr einfachen Bedingungen gelebt haben, wurde darüber fast kein Wort verloren. Auch das einseitige Essen war kaum ein Thema. So lange sie sich Süssigkeiten vom Kiran-Shop besorgen konnten und in der Stadt manchmal eine Pizza oder Finger Chips bestellen konnten, war alles in Ordnung. Finian hat sogar eine richtige Liebesbeziehung zu Indien entwickelt. Er hat ein grosses Abenteuerherz und liebt es wie ich, ungewohnte und neue Dinge zu erleben. Linus hat vor allem die Natur hier genossen. Er konnte sich in dem weitläufigen Kiran, das mit einer grossen Mauer umzäunt ist, frei bewegen und hat so einige Abenteuer ausserhalb meiner Reichweite erlebt. Jedenfalls hat er für den Kindergarten viele Forschersachen wie Federn, Schlangenhäute, Riesenbohnen, Bienenwaben usw. gefunden und ist sehr solz darauf. Klar, dass das alles zu uns nachhause muss.

Und dann ist da noch die grosse Liebe zwischen Deepu und Linus. Wann immer Deepu Zeit hat, gehen sie zusammen spazieren, machen ein Spiel zusammen oder plaudern ein wenig. Es ist unglaublich, wie sich Linus bereits in Englisch mitteilen kann. Wie auch Finian haben beide recht gut Englisch gelernt. Schade, dass wir nicht ein halbes Jahr hier sind. Dann würden sie wohl recht fliessend Englisch sprechen können.


Deepu und Linus in Schuluniform.

Dann noch ein grosses Dankeschön an Dominik. Du hast uns dieses Abenteuer gegönnt. Wir freuen uns nun, die zwei nächsten Wochen mit dir zusammen zu verbringen, und sind gespannt, was wir alles noch erleben werden.

Sonntag, 10. April 2011

Abschied von Varanasi



Wir sind nur noch eine Woche im Kiran und das letzte Wochenende in Varanasi. Es heisst nun Abschied nehmen von so vielen tollen Menschen, mit denen wir zusammen sein durften. Auch wenn man nicht viel besitzt, so wurde doch immer alles mit uns geteilt. Das ist indische Kultur. Und so wurde oft für uns speziell Fleisch und Fisch gekocht, obwohl man sich diese Lebensmittel, wenn von der Religion und Kaste überhaupt erlaubt, nur sehr selten leistet. Wir wurden bewirtet, man hat sich liebevoll um Finian und Linus gekümmert und man hat sich immer Zeit für uns genommen. Das Abschiednehmen fällt vor allem mir sehr schwer, da ich weiss, dass wir uns wohl einige Jahre nicht mehr sehen. Ich werde diese grosszügigen und liebenswerten Menschen sehr vermissen. Ganz speziellen Dank geht vor allem an Maria, Hiralal, Maibu, Raju, Lipikar und Ramesch!




Samstag, 9. April 2011

Die zweitletzte Woche im Kiran

Es ist nun 38 bis 40 Grad im Schatten. Die Deckenventilatoren laufen und die täglichen Stromausfälle häufen sich. Auch das Internet ist manchmal ein paar Tage abgeschaltet. Das Wetter macht alle sehr müde, auch die Inder. Alles braucht noch viel mehr Zeit und noch mehr Geduld. Die Erde wird ganz staubig und geht durch alle Ritzen. Alles, was man ein paar Tage rumliegen lässt, sieht aus, als ob es jahrelang dagelegen hätte. Täglich wische ich alle Zimmer und trage die staubige Erde wieder raus.

Neuerdings haben wir fast täglich Frösche in allen Grössen im Guest House. Nach den Riesenkäfern, den zirpenden Grillen in der Nacht und den üblichen Insekten sind sie mir schon fast am liebsten.

Linus bekam vor einer Woche Fieber mit sehr starken Kopfschmerzen. Nachdem es am nächsten Tag nicht besser wurde und Linus sich ein paar Mal übergeben musste, ist der Kiran-Doktor zu uns gekommen. Da er eine Malaria nicht ausschliessen konnte und eine Früherkennung sehr wichtig ist, bekam Linus die nötigen Malariatabletten und ein Antibiotikum, damit man eine Hirnhautentzündung vermeiden kann. Für den nächsten Tag wurde ein Kiran-Jeep bestellt, der uns in ein Spital in Varanasi bringen sollte, damit eine Blutuntersuchung gemacht werden kann. Zum Glück ging es Linus am nächsten Tag so viel besser, dass wir ihm die Blutuntersuchung ersparen konnten. Nach drei Tagen ging es ihm bereits wieder so gut, dass ich ihn fast anbinden musste, damit er nicht in der Hitze rumrennt.

Finian ist in Indien noch nie krank geworden. Nicht einmal Durchfall hat er bekommen. Seine einseitige Ernährung (nur Reis und Dahl ohne Gemüse) scheint ihm zu bekommen. Nur seine moskitozerstochenen Beine und Schürfungen machen mir wegen Infektionsgefahr manchmal Sorgen. Seine überaus empfindliche Haut wird hier recht beansprucht. Dazu kommt noch, dass er leider die Verletzungen in der Nacht immer wieder aufkratzt.

Diese Woche war für mich so anstrengend, dass ich ein paar Tage später selber Fieber bekam. Bei dieser Hitze ist das nicht sehr angenehm. Übrigens, das Kinderfieberthermometer, das ich mitgenommen habe, piepst von Zeit zu Zeit immer wieder aus dem Nécessaire heraus. Die Temperaturen hier sind so hoch, dass das automatische Thermometer selbst zu messen anfängt!

Dienstag, 5. April 2011

Kiran-Hostel



Jeden Abend essen wir in einem der Kiran-Hostels. Es gibt ein Mädchen- und ein Buben-Hostel. Dort leben ca. 60 Kinder, die nicht täglich nach Hause können. Meistens leben die Eltern zu weit entfernt oder die Lebensumstände für ein behindertes Kind sind zuhause sehr schwierig. Die Kinder hier sind erstaunlich fröhlich. Sie haben gelernt, sich gegenseitig zu helfen. Und so ist es selbstverständlich, dass die Kinder, die einigermassen laufen können, einen Rollstuhl stossen und alle die Gebärdensprache für die Gehörlosen können.

Finian und Linus spielen fast täglich mit all den Kindern und wir geniessen die fröhliche und liebevolle Stimmung im Kiran. Übrigens, mich nennt man hier Petra-Didi. Das heisst «Grosse Schwester Petra» und ist eine Höflichkeitsform für eine weibliche Person, die älter ist als man selbst. Linus ist der «Babu». Das braucht man für alle kleinen Kinder und ist sehr liebevoll gemeint.



In der ganzen Zeit, in der wir täglich mit diesen Kindern Kontakt haben, habe ich nur ein einziges Mal ein Kind weinen sehen. Es war an Holi, dem farbenfrohen Hindufest, an dem sicher zwei Drittel der Hostel-Kinder für drei Tage nach Hause durften. Eine Mutter hat ihren Sohn, der im Kiran bleiben musste, angerufen. Da ist das Heimweh dann doch hochgekommen.

Im Kiran hat man nur vier Wochen im Jahr Ferien. So sehen viele dieser Kinder ihre Eltern nur im Juni für vier Wochen!

Da die Hostelkinder im Kiran kaum Abwechslung haben, gehört es zu den Aufgaben eines Volontärs wie mir, jeden Sonntag mit ihnen einen Ausflug in die nähere Umgebung zu machen oder draussen oder drinnen mit ihnen zu spielen, zu malen oder zu basteln. Am liebsten gehen sie aber auf Erkundungstour und so sind wir oft mit ca. 25 Kindern mit Rollstühlen, Bein-Prothesen und -Orthesen unterwegs. Auch Finian und Linus haben Freude daran, ein Kind im Rollstuhl zu stossen. Und manchmal darf Linus sogar auf dem Schoss mitfahren.



Hier haben wir einen kleinen Ausflug in einen Hindu-Tempel gemacht, mit Dr. Moreno, dem Kiran-Arzt, und Kerstin, der zweiten Volontärin.

Mittwoch, 30. März 2011

Sarnath

Sarnath ist nach Bodh Gaya der zweitwichtigste Ort für einen Buddhisten. Buddha hielt an diesem Ort seine erste Rede. So wurden rund um die Stupa, wo er seine erste Rede gehalten hat (siehe unten), Tempel und Klöster aus allen wichtigen buddhistischen Ländern gebaut. Man kann somit architektonische Prachtbauten aus Japan, China, Sri Lanka, Tibet, Thailand, Korea und Myanmar bewundern und natürlich die vielfältigen Darstellungen von Buddha.



Das Erstaunliche ist, dass Sarnath inzwischen mit Varanasi zusammengewachsen ist. Der heiligste Ort der Hindus ist mit dem zweitwichtigsten Ort der Buddhisten verschmolzen. Und das Ganze haben wir als Christen zusammen mit unserem Tuktuk-Fahrer Raju, der Hindu ist, und unserem islamischen Lieblingsschneider Maibu besichtigt. Auf allen meinen Indienreisen habe ich immer unglaublich viel Toleranz zwischen den Religionen erlebt. Dass es bei 1.2 Milliarden Menschen in Indien ein paar Spinner gibt, ist natürlich nicht vermeidbar. Trotzdem könnten die Schweizer betreffend Toleranz hier einiges dazulernernen.




Als wir in einem der zwei tibetischen Tempel waren, wurde uns gesagt, dass der 17. Karmapa im Tempel anwesend sei und bald herauskommen werde, um den Pilgern den Segen zu geben. Er ist nach dem Dalai Lama das wichtigste geistliche Oberhaupt der Tibeter. Das darf man sich natürlich nicht entgehen lassen. Und so sind auch wir zwischen den Mönchen und einigen westlichen Anhängern mit einem weissen Segnungstuch gestanden und haben auf den Lama gewartet. Linus musste natürlich wieder mal ein riesen Geschrei machen, weil wir nur ein Tuch hatten und er eines alleine wollte. So kam ein sehr junger Mönch (vielleicht 13 Jahre alt) auf ihn zu und hat ihm seines gegeben, obwohl für diesen Mönch die Segnung wohl einer der wichtigsten Momente seines Lebens ist. Dieser Mönch hat die buddhistische Lehre bereits verstanden - Linus muss noch daran arbeiten!




Jedenfalls kam es leider doch nicht zu der Segnung. Der Lama erschien ganz kurz auf dem Dach und hat wohl mitgeteilt, dass er erst in zwei Stunden kommen werde. So sind wir ohne Segen, aber sehr glücklich und sehr müde, von den vielen tollen Eindrücken zurück an den Assi-Ghat gefahren.

Nein, nicht ganz. Unterwegs hat uns Maibu noch zu sich in seine Wohnung eingeladen. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern (man sieht sie auf dem Bild, wo Linus im Sand eingegraben ist) in einem Raum, der ca. 6 m2 gross ist. In diesem wird geschlafen, gekocht und geschneidert. Im Nebenraum, der auch nicht grösser ist, leben seine Eltern. Wenigstens haben sie eine eigene 3-m2- Toilette, in der man aber leider nicht stehen kann, da sie unter einer Treppe eingebaut ist.

Montag, 28. März 2011

Stolze Funde

Ja klar, gibt es hier Schlangen, aber zum Glück haben wir noch nie eine angetroffen. Dass sie aber so gross sein können, hat mich doch schaudern lassen. Linus hat diese Schlangenhaut hinter einem der Kiran-Häuser gefunden. Er ist ja sooooo stolz auf seinen Fund. Da musste natürlich Finian auch gleich auf Schlangenhautsuche gehen und wurde mit einigen grösseren Bruchstücken belohnt. Beunruhig bin natürlich nur ich.



Es gibt aber noch viel mehr Tiere im Kiran. Wir können sie jeden Tag sehen und hören. Bereits am morgen früh werden wir von den wunderschönen und ungewohnten Vogelrufen geweckt. Das Kiran ist ein richtiges Vogelparadies.

Dann sind da noch die schnellen Streifenhörnchen, die überall in den Bäumen rumturnen. Es gibt Mäuse (oder Ratten) im Dach, die über uns hin und her rennen, und viele Besuche von grösseren und kleineren Insekten. Es gibt wunderschöne Schmetterlinge und wenn es dunkel ist auch viele Fledermäuse und manchmal Glüehwürmli.

Die weniger angenehmen Insekten sind die Moskitos. Von Anfang an versuchten wir, uns mit spezieller Moskitocreme, Sprays und Moskito-Netzen zu schützen. Und doch werden wir immer wieder gestochen. Vor allem morgens in der Schule oder gegen Abend, wenn wir uns draussen aufhalten.

Das Kiran hat eine kleine Farm mit Wasserbüffeln und Kühen, welche uns täglich mit einem Liter frischer Milch versorgt Es gibt Ziegen und Zicklein und ein Pferd für die Hippotherapie.

Und dann gibt es noch die vielen Hunde, die hier draussen auf dem Gelände leben. In der Nacht kann man immer wieder ihre Rangordnungskämpfe hören und zwischendurch heulen sie wie Wölfe. Sie ernähren sich hauptsächlich von den Essensresten der Schule und der Hostels. So bekommen auch sie jeden Tag Reis, Dahl und Gemüse! Übrigens kenne ich bereits zwei indische Hundebesitzer (diese Hunde leben dann im Haus und nur im Haus), welche ihre Hunde vollvegetarisch füttern. Diese Hunde essen auch Erbsen und Papaya und haben noch nie Fleisch, Fisch oder ein Ei bekommen.

Finian und Linus könnten wohl noch einige Tiere mehr aufzählen. Von Stabheuschrecken bis Eidechsen, Fröschen und Kröten gibt es hier alles. Doch die schönsten Bewohner sind wohl die Pfaue, die hier frei rumstolzieren. Eine wahre Pracht.

Halbzeit

Eineinhalb Monate sind wir nun hier. Wir haben bereits so viel erlebt, dass wir das Gefühl haben, länger in Indien zu sein. Inzwischen ist unser Daheim das Guest House im Kiran geworden. Der Tagesablauf hat sich so sehr eingespielt, dass Linus bereits die Bemerkung machte, dass er sich wohl zuhause in der Schweiz auch wieder eingewöhnen müsse. So wie er es auch hier erlebt habe.

Es ist nun mindestens 35 Grad im Schatten. In der Nacht geht das Thermometer nicht mehr unter 27 Grad.

Wir leben hier in einem kleinen Mikrokosmos. Von den Sorgen draussen in der grossen Welt haben wir nicht viel mitbekommen. Da wir hier keinen Fernseher und keine Zeitung haben, stammen unsere einzigen Informationen aus den kurzen Mails oder Skypegesprächen mit Dominik. Vom Regierungswechsel in Ägypten und von den grossen Problemen in Libyen habe ich sogar erst vor ein paar Tagen durch einen Schweizer Besucher erfahren. Die Riesenkatastrophe in Japan wurde nur kurz von zwei indischen Lehrern erwähnt. Eine Lehrerin fragte mich besorgt, ob die Schweiz sehr nah bei Japan liege.

Die Menschen hier haben meistens nicht die Möglichkeit, sich um andere Probleme als die eigenen zu kümmern. Nicht dass sie nicht mitfühlend wären, aber der tägliche Überlebenskampf ist einfach noch zu gross. Hier ein paar Geschichten aus dem Kiran:

Als wir im Kiran ankamen, erzählte mir ein indischer Freund, dass seine Frau und die zwei Kinder gerade Typhus hätten. Seine Frau müsse über eine längere Zeit zweimal täglich eine Spritze bekommen, damit sie wieder gesund werde. Natürlich ist für teure Medikamente kein Geld da. So muss er bei einem Freund Schulden machen. Als es nach ein paar Wochen seiner Familie etwas besser ging, erzählte er mir, dass nun seine Schwiegermutter sehr krank sei. Da niemand gut für sie sorgen könne, habe er sie zu sich in sein Haus (für uns eher eine Hütte) eingeladen. Da es bei ihm zuhause besseres Essen gibt als dort, wo sie herkommen, sind gleich zwei Schwägerinnen mit ihren zwei Kindern mitgekommen. Mein Freund hat selber eine Frau und drei Kinder. Nun leben in dieser ca. 10 m2 grossen Hütte (ein Raum, in dem gekocht, geschlafen, Hausaufgaben gemacht und gearbeitet wird) fünf erwachsene Personen und fünf Kindcr. Das Geld ist bereits für seine Familie recht knapp. Nun muss er noch fünf weitere Personen durchbringen. Und das auf unbestimmte Zeit. Warum er nicht sagt, dass er keinen Platz habe und zu wenig Geld? Weil das in Indien unmöglich ist! Du kannst so die ganze Familie verlieren. Und ohne Familie bist du in Indien verloren – sie ist dein einziger Halt.

Was ich noch nicht erzählt habe, ist, dass mein Freund als einziger in der Familie stark behindert ist. Seine Beine sind durch Kinderlähmung sehr stark eingeschränkt und er läuft mit Beinstützen. Seine Frau behandelt ihn leider sehr schlecht. Und trotzdem macht er alles für sie. Schade, dass nicht alle erkennen, was für ein wunderbarer Mensch er ist.

Oder das damals dreijährige Mädchen, das vor 14 Jahren von ihrem Vater im Bahnhof zurückgelassen wurde mit den Worten: «Ich kommen gleich wieder.» Aber er ist nie mehr zurückgekommen. Da man die Eltern nicht ausfindig machen konnte, wurde sie ins Kiran gebracht. Die Beine des Mädchens sind wegen der Kinderlähmung so stark beeinträchtigt, dass sie heute im Rollstuhl sitzt. Sie ist hier in guten Händen, aber die Frage, warum wohl die Eltern keine andere Lösung gefunden haben, wird wahrscheinlich nie beantwortet werden.

Kürzlich würde ein 15jähriger Junge ins Kiran gebracht, der vor einem Jahr seinen rechten Unterarm, alle Finger der linken Hand ausser dem Daumen und beide Füsse bis zu den Fersen verloren hat. Warum? Sein Vater hatte Schulden, die er nicht zurückzahlen konnte. Da hat sich der Geldeintreiber bei seinem Sohn gerächt. Nun versucht man hier im Kiran, ihm Prothesen anzufertigen. Ob das gelingen wird, ist noch unklar, da die Haut an den Schnittstellen noch sehr empfindlich ist.

Oder das 20jährige Mädchen, das aus sehr armen Verhältnissen stammt, aber eigentlich zufrieden ist. Denn sie ist recht schön und hofft, einen guten Ehemann zu finden. Beim Kochen explodiert dann aber eine Gasflasche. Ihr ganzer Körper wird verbrannt und entstellt. Nun ist sie froh, als Näherin für Maria (meine indische Freundin) zu arbeiten. Ob sie noch einen Ehemann finden wird? Wohl kaum. Oder die Mitgift ist so hoch, dass die Eltern diese unmöglich bezahlen können. Aber das Schlimmste sind wohl die bleibenden Schmerzen, die grossen Bewegungseinschränkungen, da die Haut besonders an den Armen zu kurz ist und ihre grosse Scham. Als ich ihre entstellten Arme sah, war mir klar, dass ich unbedingt dafür sorgen muss, dass sie eine zweite Operation bekommt, die ihr erlaubt, ihre Arme ganz auszustrecken. In der Schweiz wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Ein guter Freund erzählte mir, dass er im letzten Jahr nach Bombay fahren musste. Seine Schwägerin hatte sich in ihrer Wohnung vor ihrem Ehemann mit Benzin übergossen und angezündet. Als ich ungläubig nachfrage, ob das wirklich sein könne, sagte er mir, dass die Frau dies vor ihrem Tod aufgrund der starken Verbrennungen dem Polizeibeamten gesagt habe. Alle wissen aber, dass ihr Ehemann (der Bruder meines Freundes), der Alkoholiker ist und dadurch viele Probleme in der Familie schuf, seine Frau angezündet hat. Natürlich fragte ich nach, warum sie der Polizei nicht die Wahrheit gesagt hatte. Mein Freund meinte, dass sie eine «wonderful lady» gewesen sei und die ganze Familie ihr dankbar dafür sei. Für meine westlichen Ohren ist das unglaublich. Aber vielleicht hat sie an ihre vier Kinder gedacht, welche dann auch noch ohne Vater aufwachsen müssten. Ein Vater im Gefängnis (ein indisches Gefängnis ist natürlich auch die Hölle) würde den Werdegang der Kinder nur noch verschlimmern. Der Ruf der Eltern ist sehr wichtig für eine spätere Heirat. Ich kann es trotzdem kaum fassen, dass man so viel Grösse zeigen kann, wenn einem jemand so etwas Unerträgliches antut. Ich verneige mich vor dieser Frau und weiss genau, dass ich es nicht gekonnt hätte.